Küstereirente
von Hans Henn
Die ersten Taschenuhren wurden im 17. Jahrhundert
erfunden. Sie waren jedoch für den größten Teil
der Bevölkerung unerschwinglich. Der Tagesablauf
musste sich an anderen Fixpunkten ausrichten. So
lange es keine elektrische Beleuchtung gab,
spielten Sonnenaufgang und Sonnenuntergang die
entscheidende Rolle. Für die katholische
Dorfbevölkerung und die in der Landwirtschaft
Beschäftigten bedeutete das Angelusläuten neben
dem Gebet (Der Engel des Herren) eine feste Größe
im Tagesablauf. Erklang die Mittagsglocke, so
wurde die Feldarbeit unterbrochen. Mensch und Tier
machten sich auf den Weg zum Mittagessen bzw. zur
Fütterung im Stall. Nach der Mittagspause begann
um 13.30 Uhr wieder die Arbeit.
Bis Mitte der 1950er Jahre trugen Landwirte bei
der schweren körperlichen Arbeit selten eine Uhr.
Gerade das Angelusläuten mittags um 11.30 Uhr war
daher sehr wichtig. Darin scheint auch der Grund
zu liegen, dass nicht nur Wollersheimer Küster
seit alters her für das Läuten eine besondere
Vergütung erhielten.
In dem alten Lagerbuch der Kath. Kirchengemeinde
Wollersheim, das 1826 begonnen wurde, steht unter
dem Abschnitt "Vermögen der Küsterei Wollersheim,
nutzbringende Gerechtsame": "Der Küster hat das
Recht von jedem Hause, welches Ackerland besitzt,
eine Korngabe und eine Hafergabe zu fordern". Der
Anspruch auf die Küstereirente beruhte also auf
"altem Gebrauch" und war stets unstreitig. Die
Küstereirente dürfte ein Usus (Brauch, Sitte)
dieser Gegend gewesen sein, wenigstens bei damals
leistungsschwachen Gemeinden.
In früheren Etats, so schon 1831, wird diese
alte Naturalrente ausgewiesen. Im Jahre 1898/99
findet sich im Etat an gleicher Stelle nicht mehr
die Naturalrente sondern nur noch der Vermerk "dem
Küster für eine aufgehobene Fruchtrente 60 Mark".
Diese Rente wurde aus der Gemeindekasse
Wollersheim jährlich an die Kirchengemeinde zur
Weiterleitung an den Küsterstelleninhaber gezahlt.
Ebenfalls in Muldenau sind bzw. waren für eine
Küsterente 36,- Euro jährlich zu zahlen. Dieser
Betrag ergab sich aus einem Naturalanspruch. Im
Lagerbuch der Pfarre zu Wollersheim, deren
Annexkirche (Filialkirche) Muldenau früher war,
heißt es unter "Vermögen der Küsterei Pissenheim:
Der Küster bezieht jährlich von jedem
katholischen Haus 2 Faß Hafer, deren ungefähr 37
sind; folglich bezieht derselbe im Ganzen 74 Faß
Hafer. Der Küster bezieht jährlich von jedem
Haus 4 Pfund Brod, deren 37 sind, macht im
Ganzen 148 Pfund Brod.
Dieses Recht gründet sich auf einen alten
Gebrauch."
Auch in Muldenau scheint die Naturalrente im 19.
Jahrhundert in eine Geldrente umgewandelt worden
zu sein. Der Gärtner Wilhelm Pirig bestätigt, für
die Jahre 1896 und 1897 jeweils ein Läutegeld von
36,- Mark erhalten zu haben.
In den Jahren 1932 und 1933 traten erstmalig
Differenzen zwischen Zivilund Kirchengemeinde
Wollersheim wegen der Küstereirente auf. Pfarrer
Dürselen wies die Gemeinde auf die alte
Verpflichtung hin und bat um Auszahlung. Am
30.6.1933 befasste sich der Gemeinderat mit der
Angelegenheit und beschloss die Genehmigung für
die Jahre 1932 und 1933.
Nach der Machtübernahme durch die
Nationalsoziallisten war die Küstereirente wieder
ein Diskussionsthema zwischen der Gemeinde und der
Pfarre. Am 8. Juni 1935 bat der Amtsbürgermeister
von Wollersheim, Ewald Reinartz, den Kirchvorstand
bzw. das Erzbistum Köln um Auskunft, "aus
welchem Anlass die Rente gezahlt werden muss und
inwieweit eine rechtliche Verpflichtung zur
Zahlung vorliegt."
In seiner Antwort vom 4. Oktober 1935 wies das
Erzbistum darauf hin, dass sich die Rente auf ein
altes Recht des Küsterstelleninhabers bezog, das
nicht nur in Wollersheim bestand. Außerdem wurde
darauf hingewiesen, dass das Reichsgericht am
11.1.1924 bei einem ähnlich gelagerten Anspruch
entschieden habe, dass auch ohne Vorliegen eines
besonderen Titels die seit langer Zeit erfolgte
Zahlung als zurecht bestand.
Auf Grund dieser Erklärung dürfte die Gemeinde
Wollersheim die Zahlungen weiter geleistet haben.
Nach der kommunalen Neugliederung zum 1.1.1972
griff die Stadt Nideggen das Thema erneut auf. In
seiner Antwort vom 19.11.1973 argumentierte das
Erzbistum in der bereits früher praktizierten
Form. Am 29.11.1973 bestätigte die Stadt die
Ansprüche des Küstereistelleninhabers.
Gleichzeitig warf die Stadt die Frage auf, ob die
jährlichen Zahlungen durch Leistung einer
einmaligen Abstandssumme für alle Zeiten abgelöst
werden kann. Das Erzbistum Köln schlug für die
Kapitalisierung den 25-fachen Jahresbetrag vor.
Der Rat der Stadt Nideggen scheint diesem
Vorschlag nicht gefolgt zu sein. Mit Schreiben vom
16.8.1974 teilte die Stadt Nideggen mit, dass es
bei der bisherigen Zahlungsweise bleiben soll.
Obwohl die Stadt Nideggen 1974 die Vereinbarung
einer Abstandssumme abgelehnt hat, argumentierte
sie mit Schreiben vom 5.7.2012, dass sie seit 38
Jahren die Küstereirente zahlte und damit indirekt
von einer Ablösung ausgegangen werden kann. Zur
Kosteneinsparung werde die Küstereirente künftig
nicht mehr gewährt.
Die Argumentation der Stadt Nideggen ist nicht
nachvollziehbar. Was sie vor rund 40 Jahren
ablehnte, das zieht sie heute für ihre
Zahlungsverweigerung als Lösung heran. Vor Gericht
dürfte die Stadt dafür kaum Gehör finden. Eine
Zahlungsverpflichtung, die seit 200 Jahren
besteht, als freiwillige Leistung zu bezeichnen,
erscheint genauso abwegig.
Vermutlich verzichtet der Kirchenvorstand von
Wollersheim aber auf einen Rechtsstreit.
Trotzdem stellt sich die Frage, in welch
desolater Finanzsituation sich die Stadt Nideggen
befindet, dass sie nicht einmal 60,- Euro
aufbringen kann.
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