Nr. 64 / Mai 2013
 

Küstereirente


von Hans Henn

Die ersten Taschenuhren wurden im 17. Jahrhundert erfunden. Sie waren jedoch für den größten Teil der Bevölkerung unerschwinglich. Der Tagesablauf musste sich an anderen Fixpunkten ausrichten. So lange es keine elektrische Beleuchtung gab, spielten Sonnenaufgang und Sonnenuntergang die entscheidende Rolle. Für die katholische Dorfbevölkerung und die in der Landwirtschaft Beschäftigten bedeutete das Angelusläuten neben dem Gebet (Der Engel des Herren) eine feste Größe im Tagesablauf. Erklang die Mittagsglocke, so wurde die Feldarbeit unterbrochen. Mensch und Tier machten sich auf den Weg zum Mittagessen bzw. zur Fütterung im Stall. Nach der Mittagspause begann um 13.30 Uhr wieder die Arbeit.

Bis Mitte der 1950er Jahre trugen Landwirte bei der schweren körperlichen Arbeit selten eine Uhr. Gerade das Angelusläuten mittags um 11.30 Uhr war daher sehr wichtig. Darin scheint auch der Grund zu liegen, dass nicht nur Wollersheimer Küster seit alters her für das Läuten eine besondere Vergütung erhielten.

In dem alten Lagerbuch der Kath. Kirchengemeinde Wollersheim, das 1826 begonnen wurde, steht unter dem Abschnitt "Vermögen der Küsterei Wollersheim, nutzbringende Gerechtsame": "Der Küster hat das Recht von jedem Hause, welches Ackerland besitzt, eine Korngabe und eine Hafergabe zu fordern". Der Anspruch auf die Küstereirente beruhte also auf "altem Gebrauch" und war stets unstreitig. Die Küstereirente dürfte ein Usus (Brauch, Sitte) dieser Gegend gewesen sein, wenigstens bei damals leistungsschwachen Gemeinden.

In früheren Etats, so schon 1831, wird diese alte Naturalrente ausgewiesen. Im Jahre 1898/99 findet sich im Etat an gleicher Stelle nicht mehr die Naturalrente sondern nur noch der Vermerk "dem Küster für eine aufgehobene Fruchtrente 60 Mark". Diese Rente wurde aus der Gemeindekasse Wollersheim jährlich an die Kirchengemeinde zur Weiterleitung an den Küsterstelleninhaber gezahlt.




Ebenfalls in Muldenau sind bzw. waren für eine Küsterente 36,- Euro jährlich zu zahlen. Dieser Betrag ergab sich aus einem Naturalanspruch. Im Lagerbuch der Pfarre zu Wollersheim, deren Annexkirche (Filialkirche) Muldenau früher war, heißt es unter "Vermögen der Küsterei Pissenheim:
Der Küster bezieht jährlich von jedem katholischen Haus 2 Faß Hafer, deren ungefähr 37 sind; folglich bezieht derselbe im Ganzen 74 Faß Hafer. Der Küster bezieht jährlich von jedem Haus 4 Pfund Brod, deren 37 sind, macht im Ganzen 148 Pfund Brod.
Dieses Recht gründet sich auf einen alten Gebrauch."

Auch in Muldenau scheint die Naturalrente im 19. Jahrhundert in eine Geldrente umgewandelt worden zu sein. Der Gärtner Wilhelm Pirig bestätigt, für die Jahre 1896 und 1897 jeweils ein Läutegeld von 36,- Mark erhalten zu haben.

In den Jahren 1932 und 1933 traten erstmalig Differenzen zwischen Zivilund Kirchengemeinde Wollersheim wegen der Küstereirente auf. Pfarrer Dürselen wies die Gemeinde auf die alte Verpflichtung hin und bat um Auszahlung. Am 30.6.1933 befasste sich der Gemeinderat mit der Angelegenheit und beschloss die Genehmigung für die Jahre 1932 und 1933.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsoziallisten war die Küstereirente wieder ein Diskussionsthema zwischen der Gemeinde und der Pfarre. Am 8. Juni 1935 bat der Amtsbürgermeister von Wollersheim, Ewald Reinartz, den Kirchvorstand bzw. das Erzbistum Köln um Auskunft, "aus welchem Anlass die Rente gezahlt werden muss und inwieweit eine rechtliche Verpflichtung zur Zahlung vorliegt."

In seiner Antwort vom 4. Oktober 1935 wies das Erzbistum darauf hin, dass sich die Rente auf ein altes Recht des Küsterstelleninhabers bezog, das nicht nur in Wollersheim bestand. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass das Reichsgericht am 11.1.1924 bei einem ähnlich gelagerten Anspruch entschieden habe, dass auch ohne Vorliegen eines besonderen Titels die seit langer Zeit erfolgte Zahlung als zurecht bestand.
Auf Grund dieser Erklärung dürfte die Gemeinde Wollersheim die Zahlungen weiter geleistet haben.

Nach der kommunalen Neugliederung zum 1.1.1972 griff die Stadt Nideggen das Thema erneut auf. In seiner Antwort vom 19.11.1973 argumentierte das Erzbistum in der bereits früher praktizierten Form. Am 29.11.1973 bestätigte die Stadt die Ansprüche des Küstereistelleninhabers. Gleichzeitig warf die Stadt die Frage auf, ob die jährlichen Zahlungen durch Leistung einer einmaligen Abstandssumme für alle Zeiten abgelöst werden kann. Das Erzbistum Köln schlug für die Kapitalisierung den 25-fachen Jahresbetrag vor. Der Rat der Stadt Nideggen scheint diesem Vorschlag nicht gefolgt zu sein. Mit Schreiben vom 16.8.1974 teilte die Stadt Nideggen mit, dass es bei der bisherigen Zahlungsweise bleiben soll.

Obwohl die Stadt Nideggen 1974 die Vereinbarung einer Abstandssumme abgelehnt hat, argumentierte sie mit Schreiben vom 5.7.2012, dass sie seit 38 Jahren die Küstereirente zahlte und damit indirekt von einer Ablösung ausgegangen werden kann. Zur Kosteneinsparung werde die Küstereirente künftig nicht mehr gewährt.

Die Argumentation der Stadt Nideggen ist nicht nachvollziehbar. Was sie vor rund 40 Jahren ablehnte, das zieht sie heute für ihre Zahlungsverweigerung als Lösung heran. Vor Gericht dürfte die Stadt dafür kaum Gehör finden. Eine Zahlungsverpflichtung, die seit 200 Jahren besteht, als freiwillige Leistung zu bezeichnen, erscheint genauso abwegig.

Vermutlich verzichtet der Kirchenvorstand von Wollersheim aber auf einen Rechtsstreit.

Trotzdem stellt sich die Frage, in welch desolater Finanzsituation sich die Stadt Nideggen befindet, dass sie nicht einmal 60,- Euro aufbringen kann.










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